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Schweizer Fachzeitschrift
für Publishing und Digitaldruck


Ralf Turtschi «Schon spannend, was hier abgeht, gell, die erste Digitaldruckmaschine, die zehnmal schneller ist als eine iGen 4. Die haben mich eben ansprechend angeschrieben, das hat mich angesprochen, und so bin ich hier.»

«Irgendwas mache ich falsch», gebe ich zurück, «das habe ich auch probiert. Im letzten Publisher habe ich jeden Glossenstammleser persönlich (!) angeschrieben, würkli persönlich (!!), und was ist daraus geworden? Keinen einzigen Leserbrief habe ich erhalten. Null Rischpons.»

Irgendwie zeigt sich Hartmann vom Thema beseelt: «Du hättest deinen Artikel mit einer PURL (!) versehen, einen QR-Code (!) einbauen und ein Filmchen (!) auf der persönlichen (!)Website verlinken sollen, welches dann das Gedruckte in einem Clip nochmals vertont (!)hätte. Dann hättest du auf drei Kommastellen genau Tausende von Klicks, Visits und Page-Views auswerten und nachbearbeiten können. Telemarketing, Callcenter, ich sags dir, ist das grosse Geschäft. Crossmediales Glossenmarketing, nennt sich das.»

Ich bleibe skeptisch: «Meinst du, und was habe ich davon? Zig Klicks allein machen keinen Brotaufstrich, oder? Diese Gier nach Traffic kann ich nicht ganz nachvollziehen. Darunter ersticken wir noch. Schau mal, im Mai hatte ich Geburtstag. Du glaubst nicht, wie viele Facebook-, Xing- und StayFriends-Freunde und Freunde der Friends mir zum Geburtstag gratulierten, das war etwas befremdend. Einmal im Jahr liegt dir die ganze Community zu Füssen. Ich hatte zwei Tage zu tun, die Push-Anteilnahme gedanklich zu verdauen! Null Investment, 80% Rischpons.»

Leibundgut gesellt sich zu uns: «Diese blinde Sammlerwut und Gier nach Klicks und Erfolgstorys geht mir langsam auf den Sack. Die totale Kommunikationskontrolle mit ‹belegbaren› Erfolgen nützen einzig Google, Facebook & Co., die über Werbung finanziert werden, die nie angeklickt wird.»

Ich kann dem nur zustimmen: «Diese unsägliche Gier nach immer mehr führt uns noch an den Abgrund. Zum Beispiel Klima: Alle technischen Verbesserungen der Automobilindustriewurden durch den Konsum von grösseren und schwereren Autos wieder zunichtegemacht. Dank besserer Gebäudeisolation muss man heute kein schlechtes Gewissen haben, zu zweit 120 statt 90 m2 zu beanspruchen. Und mit Stromsparlampen kann man das Licht auch tagsüber im Büro brennen lassen. Unterstützt von MyClimate und FSC kann man unbesorgt Tausende von Mailings klimaneutral rauslassen. Wir sind wirklich auf einem guten Wachstumspfad!»

«Genau deshalb werden wir zunehmend durch den Verwaltungsapparat präventiert», moniert Hartmann, «pathologischer Kontrollwahn ist der Fachbegriff, ich sags dir. Helmtragepflicht für Putzpersonal von Copyshops: die Initiative steht bereits. Hand-Screening bei Kundenbesuchen: Ohne saubere Hände gibts keinen Swiss-PSO! Bananen im Znünisack – verboten! Die zertifizierte Mausmatte 24/20 für Linkshänder. Die Preisangabeverordnung des Seco schreibt neu vor, dass die Druckerei gut sichtbar für Patienten im Wartezimmer ihre Preise klar und deutlich deklariert. Abgestuft nach Naturpapier, gestrichenem Papier und Zeitungspapier. Digitaldruckmaschinenhalter brauchen neuerdings eine halbtägige Zulassungsprüfung im Bildungszentrum Aarau. Polygrafen darf nur noch ausbilden, wer wöchentlich die Ausbildungscheckliste im Bildungsportal ausfüllt.»

«Warum haben die Verwaltungsbeamten und Verbandsfunktionäre das Gefühl, sie müssten mehr Macht an sich reissen?», enerviert sich Leibundgut. «Wie kann man einen solchen detailverliebten Vorschriftensumpf entwickeln und gleichzeitig Marktwirtschaft und Liberalismus ausrufen? Das ist doch fischig.»

«Es gibt Tendenzen, die Wirtschaft mit immer neuen Wachstumsimpulsen zu versorgen, da die Unternehmer bekanntlich jene Bevölkerungsschicht repräsentieren, die grundsätzlich gegängelt werden muss», antwortet Hartmann, «ein guter Beamter ist einer, der eine Vorschrift erlässt, nicht einer, der eine überflüssige ab­schafft. Je beflissener die Funktionäre ihren Fleiss mit Legitimierungsfloskeln darstellen, desto eher werden sie geachtet. ‹Die Reformkommission ist im letzten Jahr viermal zusammengekommen›, heisst es im Verbandsjargon, nicht, was das Resultat war. Oder: ‹Die Kam­pagne Printed in Switzerland ist äusserst erfolgreich angelaufen. Bis Ende April wurden für über eine halbe Million Franken Inserate in Zeitungen platziert.›»

«Wie bitte? Die hätten mit dem Geld lieber das Loch im Bildungsfonds gestopft, statt allen Mitgliedern zusätzlich 500 Franken abzuknöpfen!»

«Nein, nein, das waren doch nur Füllerinserätli, so im Stil von ‹Inserieren bringt Erfolg!›, äusserst erfolgreich, hm.»

Inzwischen wird unsere Gruppe in den Maschinensaal geführt. «Die Unternehmer sind selber schuld», meint Feigelt, konspirativ senkt er die Lautstärke, «denn die Gier nach Macht und Kontrolle ist dem Unternehmertum grundsätzlich eigen. Macht ist Heavy-Metal, Macht ist eine Zehnfarben-Offsetmaschine mit schön und wiederkehr, mit Inline-Gadget-Klebe­aggregrat und Wärmerückkoppelungs­befeuchtung. Gross und Schnell machen Umsatz. Wurde an solchen Events jemals der Bildungsstand der Mitarbeiter herausgestrichen? Den hat man einfach. Aber 30 GB Arbeitsspeicher und ­24 Terawatt Grundleistung! Mit dem notwendigen Zertifizierungsordner kann man das Denken wegrationalisieren. ‹Gesunder Menschenverstand› ist nicht gefragt, wo es für alles ein Label gibt. Jeder vernünftige Entscheid wird dreifach cc gegen oben abgesichert, vierfach cc Gleichgestellten untergejubelt und fünffach cc nach unten befohlen. Man kann fast nichts dagegen tun. Management by Angstkultur. Kürzlich habe ich vierfach nach oben und fünffach nach unten cc kundgetan, dass man mich künftig mit solchen ccs doch bitte verschonen möge», schliesst Feigelt sein Plädoyer.

«Schliesslich sind auch die Kunden gierig», werfe ich ein, «sie wollen immer weniger zahlen, weil sie angeblich immer mehr Vorleistung erbringen, dabei nur Schaden anrichten. Der Wert unserer Arbeit ist heute schwierig zu verkaufen. Uns erreichen selbst Klagen von den Extrem­spezialisten Haeme und Michel (H & M), die den Wert der eigenen Arbeit proklamieren.»

«Tja, selbst Innovation wird irgendwann automatisiert von Laien vorweggenommen.»

«Aber das Problem ist nicht neu und schon gar nicht auf unsere Branche beschränkt», werfe ich ein, «kürzlich habe ich im Garten mit viel Schweiss etwa neun 40-Liter-Säcke grüne Profi-Erde eingebracht, nachdem ich eine Drainage gelegt hatte. Ich habe mich gefragt, warum ein Drecksack so teuer ist, habe aber keinen Gärtner beauftragt, muss ich ehrlich sagen.»

«Dabei gäbe es gerade jetzt so viel scheinselbstständige Polen, die mehrwertsteuerbereinigt, mehr oder weniger dunkelschwarz, zur Verfügung stünden! Können die nicht auch drucken? Drucken kann doch jeder …»